Gran Canaria aus Sicht des Drachen
Spektakulärer Blick vom als Mirador del Paso de Marinero bzw. Mirador del Balcón bekannten Aussichtspunkt auf das wilde Gran Canaria und in den Sternenhimmel.
Absolute Stille herrscht in dieser Höhe und sie wird nur durchdrungen vom Wind, der vom Atlantik bis in die Gipfel der Steilküste emporweht. Niemand will den seit vielen Millionen Jahren andauernden Schlaf des Drachen stören. Tatsächlich verschlägt es Besuchern den Atem, sobald sie den Mirador del Paso de Marinero bzw. Mirador del Balcón de La Aldea an der Westküste Gran Canarias erreichen, denn hier reihen sich steil ins Meer abfallende Gipfel aneinander, die wirklich an den Schwanz eines schlafenden mythischen Drachens erinnern.
Vor langer Zeit spuckte dieser alte Drache Feuer. Fünfzehn Millionen Jahre ist es her, als das ursprüngliche Gran Canaria aufgrund immer wiederkehrender Vulkanausbrüche entstand. Der Aussichtspunkt befindet sich im ältesten Teil der Insel. Die schroffe Landschaft, über die er hinausragt, ist das Resultat eines in sich zusammengestürzten Vulkans. Die steil abfallenden Felswände und Hänge stellen somit ein wahrhaftiges Buch aus Stein dar, das anschaulich erläutert, wie eine Vulkanlandschaft entsteht und sich weiterentwickelt. All dies steht in diesen Bergen geschrieben. Schicht für Schicht, Seite für Seite.
Aus dieser Ära verblieben sind der Blick auf den einschneidenden Abdruck, den der erschöpfte Drache hinterlassen hat, so dass man meint, man säße auf seinem Rücken inmitten von gigantischen Schuppen aus vulkanischem Gestein.
Das Panorama erstreckt sich über zwanzig Kilometer von der Landspitze in La Aldea bis zur Landspitze in Sardina de Gáldar. Wenn wir unseren Blick zur ersten dieser beiden Landspitzen schweifen lassen, tun sich vier Berge wie große Pyramiden vor uns auf, die in den Atlantik eintauchen, wo weiß schäumende Wellen immer wieder resigniert gegen die Basaltwände prallen. Der Felsen Roque del Herrero liegt mit seinen nur wenigen Dutzend Metern Höhe wie ein Schiffbrüchiger praktisch zu unseren Füßen. In gegenüberliegender Richtung fällt der Blick auf einen Strand, die sogenannte Playa de las Arenas, die Ausläufer von Agaete und die Berge von Gáldar und Amagro. Und direkt vor uns schweift der Blick über den dreißig Kilometer breiten Meeresarm, der Gran Canaria von Teneriffa trennt und dessen durchschnittliche Tiefe bei über 2.500 Metern liegt.
Wenn wir uns nun leise und vorsichtig umdrehen, um den Koloss nicht im Schlaf zu stören, sehen wir in der Ferne die Kiefern des Naturparks Tamadaba. An dessen Südflanke thront der Aussichtspunkt und Felsformationen in schillernden Farben - Los Azulejos - muten wie überdeckte Pinselstriche in Blau-, Grün-, Ocker- und Rottönen an. Ihr Glanz und die in der Sonne glitzernden Gewächshäuser von La Aldea sind hier die Protagonisten.
Und wenn die Furche des Drachen tief sitzt, dann auch die der der Frauen und Männer, die durch diese wunderschöne, aber doch auch so schroffe Landschaft zogen; und die ihr eine Seele gaben. Dieser überwältigende Ort, über den wir uns hier für einige Minuten hinauslehnen, gab all denjenigen Kraft, die an den Steilwänden Orchilla sammelten, Flechten, aus denen der begehrte Purpurfarbstoff gewonnen wurde. Auch Hirten schöpften Kraft aus der Umgebung: Höhenunterschiede überwanden sie mit Garrotes genannten langen, stabilen Stöcken, die sie am unteren Ende mit einer Eisenspitze versehen hatten. Und nicht zu vergessen natürlich die Mareantes, die bis an die Küste herabzogen, um Fisch und Meeresfrüchte zu fangen. Mit der alten Landstraße nach La Aldea, die von 1934 bis 1954 vor allem im Bereich von Andén Verde unter größten Schwierigkeiten erbaut worden war, stellten die Menschen einmal mehr ihr Können unter Beweis, um sich an diesen Steilhängen Gran Canarias eine Existenz aufzubauen.
Die Natur übernimmt hier fast eine künstlerische Rolle und hinterlässt in der Landschaft ein nüchternes Werk, das sich perfekt in die karge, wilde und minimalistische Umgebung einfügt. Drei, vier und sogar bis zu fünf Meter große Cardones genannte Wolfsmilchgewächse wachsen überall verstreut an Klippen und Hängen. Der weißliche Pflanzensaft der zahlreich vorkommenden Cardones und Tabaibas - beides Wolfsmilchgewächse - wurde über Jahrhunderte hinweg verwendet, um ihn mit dem Wasser in den Gezeitentümpeln zu vermischen und so die darin zurückgebliebenen Fische zu betäuben. Möglicherweise hat sogar der Drache selbst von diesem Wasser getrunken…
Wer Vögel bei ihrem Flug beobachten möchte, richtet seinen Blick in der Regel nach oben. Doch hier ist es genau umgekehrt. Die Möwen erscheinen nur noch als kleine weiße Punkte, wenn sie fast vierhundert Meter unterhalb des Aussichtspunktes über den Atlantischen Ozean gleiten. In dieser Gegend nisten Sturmtaucher in Kolonien. Sie verlassen das offene Meer nur zur Eiablage, zum Brüten und zur anschließenden Versorgung des Kükens. Als Nistplatz machen sich die Vögel Felsöffnungen zunutze. Jedes Paar legt nur ein Ei. Nachdem der Jungvogel einige Monate lang versorgt wurde, ist er schließlich auf sich allein gestellt. Diese Kinder der Klippen sind jedoch schon von Geburt an auf diese Odyssee vorbereitet.
Sobald das Licht des Tages schwindet, beginnt am nächtlichen Himmel ein intensives Leuchten. Auch dieser Punkt ist Teil des Netzes der astronomischen Aussichtspunkte von Gran Canaria. Aufgrund der geringen Lichtverschmutzung und exzellenter Voraussetzungen für die Sternenbeobachtung wurde fast die Hälfte der Insel zur touristischen Destination StarLight erklärt. In diesem Fall direkt vom Auge des Drachens aus.
Aus dieser Perspektive sind die Sternbilder des Nordhimmels die Protagonisten. Im Sommer beeindruckt vor allem das Dreieck mit den Sternen Vega, Deneb - hunderte Male größer als die Sonne und trotz der immensen Entfernung 55.000 mal heller – und Altair, dessen Etymologie auf die Silhouetten verweist, die Adler bei ihrem Flug beschreiben.
Hier unten auf der Erde, auf Gran Canaria, findet sich die unendliche Weite in den Details wieder. Nur wenige Meter vom Aussichtspunkt entfernt liegt ein Fels, der eine Farbpalette von Gelb über Rot aufweist, um dann wiederum in vielerlei Gelbtöne überzugehen. Es ist, als hätte sich einer der Sonnenuntergänge für immer auf ihm verewigt. Im oberen Bereich wachsen in den Felsspalten unter anderem verschiedene Wolfsmilchgewächse, deren Silhouette sich vom Blau des Himmels abhebt. Eine Brise streift sanft durch die Äste und betört den schlafenden Drachen.
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